In der Rechtsberatung ärgern sich unsere Mitglieder immer wieder über Nachbarn, die ihre Pflanzen entlang der Grenze nicht zurückschneiden. Darf man solche überhängenden Äste einfach kappen?
Das sogenannte Kapprecht ist in Art. 687 Abs. 1 ZGB geregelt. Nach dieser Bestimmung kann der Nachbar überragende Äste und eindringende Wurzeln, wenn sie sein Eigentum schädigen und auf seine Beschwerde hin nicht binnen angemessener Frist beseitigt werden, kappen und für sich behalten. Es gewährt dem gestörten Nachbarn somit ein Selbsthilferecht. Voraussetzung ist, dass die Pflanze vollständig auf dem Nachbargrundstück liegt und lediglich die Äste und Wurzeln über die Grenze ragen. Denn wenn die Pflanze direkt auf der Grenze steht, kommen vermutungsweise die Regeln über das Miteigentum zur Anwendung (vgl. Art. 670 ZGB).
Weiter muss – und das wird immer wieder zu wenig beachtet - ein Schaden vorhanden sein, d.h. ohne schädigende Einwirkung sind überragende Äste und eindringende Wurzeln zu dulden. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die Schädigung des Nachbargrundstücks gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung erheblich sein muss. Dies ist dann der Fall, wenn es sich um eine über das normale Mass hinausgehende Einwirkung auf das Nachbargrundstück handelt. Hierfür sind die objektive Sichtweise einer durchschnittlichen Person sowie die Umstände des Einzelfalls relevant. Keine Rolle spielt dagegen die subjektive Einschätzung des betroffenen Nachbarn. Für die Beurteilung der Erheblichkeit werden der Ortsgebrauch oder die Art, wie das Grundstück genutzt wird, herangezogen. So reichen nach der Rechtsprechung beispielsweise der Laub-, Blüten- und Nadelfall, Fallobst oder die Anziehung von Insekten in der Regel nicht, um ein Kapprecht zu begründen.
Zudem muss der geschädigte Nachbar, bevor er sein Kapprecht ausüben kann, seinem Nachbar diese übermässige Einwirkung anzeigen und ihm eine angemessene Frist für deren Behebung ansetzen. Am besten mittels eingeschriebenem Brief. Die Angemessenheit der Frist bestimmt sich nach den Umständen im Einzelfall, der Art und dem Grad der Einwirkung, der Vegetationsperiode der Pflanze und der Jahreszeit. Es soll dem Pflanzeneigentümer die Möglichkeit geboten werden, dass er selber die schädigenden Äste und Wurzeln beseitigt zu einem Zeitpunkt, wo die Pflanze durch einen Rückschnitt keinen Schaden nimmt. Auch soll er die Gelegenheit erhalten, die geltend gemachte Beschädigung bestreiten zu können (z.B. mittels einer Feststellungsklage oder eines richterlichen Verbots).
Sind die dargelegten Voraussetzungen des Kapprechts gegeben, so darf der Nachbar mit der gehörigen Sorgfalt die überragenden Pflanzenteile bis auf die Grundstücksgrenze zurückschneiden und für sich behalten. Nach der Lehre und Rechtsprechung steht dem kappenden Nachbar, abgesehen von der Möglichkeit das abgeschnittene Holz zu behalten, aus dem Kapprecht kein Ersatzanspruch seiner Auslagen zu. Meist will der kappende Nachbar die Äste und Wurzeln gar nicht, da diese im Normalfall keinen Wert haben und er sogar noch für deren Entsorgung bezahlen müsste. Verzichtet er auf die Aneignung, kann er verlangen, dass der Pflanzeneigentümer die gekappten Pflanzenteile wegschafft (Art. 641 Abs. 2 ZGB) oder er wirft sie ihm auf das Pflanzengrundstück. Dabei muss er sich aber bewusst sein, dass ein solches Vorgehen nicht zu einer besseren Nachbarschaft beitragen wird. Nebst dem Kapprecht stehen dem Nachbar noch die Eigentumsfreiheitsklage nach Art. 641 Abs. 2 ZGB sowie die Klage aus Besitzesstörung nach Art. 928 ZGB zur Verfügung.
Im Zusammenhang mit dem Kapprecht stellt sich weiter die Frage, ob ein solches verjährt, d.h. ob der Nachbar irgendwann sich nicht mehr auf sein Kapprecht berufen kann, weil er mit dessen Ausübung zu lange zugewartet hat. Dies ist nicht der Fall; sein Abwehranspruch ist grundsätzlich unverjährbar, denn die ungerechtfertigte Einwirkung dauert immer weiter fort.
Schreitet der von einer Pflanze gestörte Nachbar trotz der fehlenden Voraussetzungen fürs Kapprecht (Schädigung, Beschwerde, Fristansetzung) trotzdem zur Tat, schneidet er zu viel ab oder geht er beim Kappen unsorgfältig vor, handelt er in verbotener Eigenmacht und der geschädigte Nachbar kann sich mit der Besitzesschutzklage nach Art. 928 ZGB zur Wehr setzen. Ausserdem kann er einen allfälligen Schaden zivilrechtlich (Art. 41 Abs. 1 OR) geltend machen und er kann eine Strafanzeige gegen den kappenden Nachbarn wegen Sachbeschädigung (Art. 144 StGB) einreichen.
Bevor Sie jedoch als geschädigter Nachbar zur Schere bzw. Säge greifen oder eine Klage anhängig machen, wird Ihnen dringend empfohlen, mit dem Pflanzeneigentümer in aller Ruhe das Gespräch und nach einer einvernehmlichen Lösung zu suchen. Manchmal hilft auch die freiwillige Bereitschaft, sich zum Beispiel an den Fällungskosten eines Baumes zu beteiligen. Sind die Fronten aber bereits verhärtet, wird es immer schwieriger eine Einigung zu erreichen.